| Des Königs kleine Fluchten; Der Harem ist  abgeschafft, die "Feuersklaven" sind weg: Mohammed VI. hat Marokko eine  vorsichtige Modernisierung verordnet. Doch auch wenn er Straßen baut  und mehr Offenheit zulässt, achtet er sehr darauf, dass seine Macht  unantastbar bleibt  Von Rudolph Chimelli  11 December 2008 El  Jadida - Der König kommt. An allen Autobahnzufahrten südlich von  Casablanca stehen Polizeifahrzeuge. Die Brücken sind bespannt mit  Fahnen und besetzt von Posten. An der 100 Kilometer langen Strecke zur  einstmals portugiesischen Hafenstadt El Jadida sind Bewaffnete  postiert, zusätzlich an alleinstehenden Gebäuden. Alle tragen solides  Wetterzeug, denn der Dauerregen fällt wie ein Wasserschwall. So wie in  diesem Jahr hat es in Marokko seit Jahrzehnten nicht geregnet. Mehr als  60 Menschen ertranken in überfluteten Wadis oder Gassen. Dennoch  ist das Wasser hochwillkommen. Erst zur Hälfte sind die Staudämme in  dem von chronischer Trockenheit geplagten Land gefüllt. Stellenweise  ist der Grundwasserspiegel durch Übernutzung der Reserven schon um  Dutzende Meter gesunken. Großgrundbesitzer beuten die Vorräte für ihre  Plantagen aus. Neue Hotels locken eine immer größere Zahl Touristen mit  wasserintensiven Badezimmern und maurischen Gärten. Überall entstehen  für die neureiche Oberschicht Golfplätze. Das benachbarte Algerien  gewinnt pro Tag durch Meeresentsalzung eine Milliarde Kubikmeter  Süßwasser, Spanien dreieinhalb Milliarden, Marokko noch fast nichts. Die  Stunde, zu der der König kommt, wird nicht bekanntgegeben. Ungerührt  stehen die Männer im Regen. Geduldig harren auch die Neugierigen hinter  den Absperrungen in der Stadt aus. Die Geheimhaltung erfolgt aus  Sicherheitsgründen, aber nicht nur. Auf den König zu warten gehört zum  Dekorum Marokkos. Bei Hassan II., dem Vater des jetzigen Herrschers,  konnten es Stunden werden, bei Mohammed VI. sind die Fristen kürzer.  "Gleichwohl ist manchmal das ganze Land wegen einer simplen königlichen  Einweihung immobilisiert", zitiert die kritische Zeitschrift Le Journal  einen Leidgeprüften. "Alle Minister und hohen Beamten sind für Stunden  unerreichbar. Ihre Mobiltelefone werden gestört, falls sie nicht  sowieso eingezogen werden." Die Sakralisierung der Monarchie ist als  Teil des Systems konsequent ausgebaut worden. Der Titel "Befehlshaber  der Gläubigen", auf den der König seine religiöse Autorität stützt, ist  keineswegs marokkanische Tradition, sondern wurde erst vor einem  knappen halben Jahrhundert in die Verfassung geschrieben. Nach ihr ist  die Person des Königs "unverletzlich und heilig". Seine Botschaften an  Nation und Parlament "sind nicht Gegenstand von Debatten". Über den  Anspruch der Dynastie, vom Propheten Mohammed abzustammen, gehen  Historiker mit feinem Lächeln hinweg. Niemand wagt, ihn in Frage zu  stellen. Als Mohammed VI. vor neun Jahren den Thron bestieg,  versuchte er gegen den Stachel des Protokolls zu löcken. Seine Hand  zuckte zurück, wenn Untertanen kussbereit in die Knie gingen. Doch bald  gewöhnte er sich an die Gepflogenheiten, auf deren Einhaltung ihn seine  Umgebung hartnäckig festzulegen sucht. Einiges vom Überkommenen  schaffte er aber ab. Er löste den Harem seines Vaters ebenso auf wie  die Zunft der "Feuersklaven", die für Dienstboten und Frauen in 15  Palästen und einem Dutzend Residenzen gefürchtete Zuchtmeister waren.  Aber die Hofhaltung wurde nicht billiger. Im Phosphat-Hafen  Jorf Lasfar nahe El Jadida eröffnet Mohammed VI. ein neues Werk, das  Phosphorsäure für Pakistan herstellt. An den Kais wird die Kohle für  Marokkos größtes Kraftwerk ausgeladen. Das Land hat nur Spuren von  Erdöl, kein Gas und muss 97 Prozent der Grundstoffe für seinen  Energieverbrauch importieren. Danach besucht der Monarch ein  erweitertes Dialyse-Zentrum. In den Tagen zuvor hatte El Jadida rund um  das königliche Gestüt den "Salon des Pferdes" mit internationaler  Beteiligung gefeiert. Aber der König, den viele erwarteten, kam nicht.  Sein Vater hatte ihm gepredigt: "Der Thron der Alauiten steht auf dem  Rücken der Pferde." Doch den Sohn faszinieren Autos, bevorzugt Mercedes  und Ferrari, stärker als Araberhengste. Jener Vater hatte  während der 38 Jahre seines Regnums dem marokkanischen Norden nicht  einen einzigen offiziellen Besuch gewidmet. Das Rif-Gebirge, die  Mittelmeerküste und Tanger blieben weitgehend im Entwicklungsabseits.  Mohammed VI., der ständig im Land unterwegs ist, will diesen Rückstand  aufholen. Als Projekt von pharaonischen Dimensionen wurde im Jahre 2004  der neue Hafen Tanger-Med zwischen Tanger und der spanischen Enklave  Ceuta in Angriff genommen. Er wird der größte Tiefseehafen Afrikas.  Seit letztem Jahr ist für den Umschlag zwischen Europa, Nordafrika,  Amerika und der Golf-Region bereits der Containerhafen in Betrieb.  Daneben entstehen ein Fährhafen für jährlich fünf Millionen Passagiere  sowie Terminals für Güter, Erdöl und Gas. Unter dem jetzigen König  erhielt Marokko 900 Kilometer Autobahn, mehr als jedes Land des  Kontinents mit Ausnahme Südafrikas. Wenn er allein unterwegs  ist, schüttelt der Monarch gern die Strenge des Protokolls ab. Er sitzt  selber am Steuer, verzichtet auf Motorrad-Eskorte, Blaulicht und  Sirene, hält an roten Ampeln. Die drei Sicherheitsleute im Wagen hinter  ihm raufen sich die Haare. Denn der König hält sich an kein Programm,  steigt aus, schüttelt Hände, trinkt ein Glas Tee und fährt wieder  weiter. Auf den Vorwurf, er sei international zu wenig sichtbar,  erwiderte er: "Erst kommt mein Haus. Taza ist mir wichtiger als Gaza."  Taza ist eine kleine Stadt östlich von Fez. Zu Beginn des  Schuljahres stiftete der König 1,1 Millionen Kindern aus armen Familien  Schulranzen samt Büchern, Heften und Stiften. Mit solchen Aktionen  sucht er seinen Ruf als "König der Armen" zu festigen, den er sich  sofort nach Beginn seiner Herrschaft durch großzügige  Lebensmittelverteilung erworben hatte. Ein armer König ist er nicht.  Ihm und seiner Familie gehört über die Holding-Gesellschaften Ona  (Omnium Nord-Africain) und Siger (Anagramm von "Regis" gleich  königlich) ein großer Teil der Wirtschaft: Banken, Versicherungen,  Fischerei, Minen, Lebensmittelindustrie, Einzelhandel, Tourismus,  Informationstechnik und anderes. Sogar Brauereien befanden sich im  Portefeuille des Befehlshabers der Gläubigen. Im letzten Jahr machte  die Gruppe drei Milliarden Euro Gewinn. Im Prinzip gelten für  Marokkos Unternehmen die Gesetze des Marktes. Tatsächlich werden  Ona-Firmen überall bevorzugt. Oft genießen sie monopolähnliche  Privilegien. Ursprünglich umfasste die Ona-Gruppe zur Zeit des  französischen Protektorats den marokkanischen Besitz der Pariser Bank  Paribas. Ein ehemaliger PR-Direktor der Paribas, André Azoulay, der  sich selber mit Stolz einen sephardisch-marokkanisch-arabischen Juden  nennt, hatte nach seiner Rückkehr in die Heimat schon Hassan II.  beraten und gehört zum Stab Mohammeds VI. Die große Mehrheit  der Marokkaner partizipiert weder am Glanz des Hofes noch am Wohlstand  der neuen Mittelschicht. Gehälter betragen nur ein Zehntel des  europäischen Durchschnitts. Arbeitslose, Unterbeschäftigte, sozial  Ausgegrenzte, Slum-Bewohner leben am Rand des Elends. Neben den  modernen Industrieanlagen von Jorf Lasfar pflügen Kleinbauern mit Esel  oder Kamel. Jede Minute erscheint auf den Café-Terrassen der Hauptstadt  Rabat ein fliegender Händler, der Taschentücher, Lesebrillen oder DVDs  loswerden muss. Jede Woche demonstrieren Universitätsabsolventen, die  keine Stelle finden. Noch immer liegt die Analphabetenrate um die 50  Prozent. Der König, inzwischen 45 Jahre alt, treibt gern Sport.  Jede seiner Residenzen hat ihren Saal für Bodybuilding. Am liebsten  fährt er Wasser-Scooter, was seiner Majestät den Spitznamen  "Ma-jet-ski" eingetragen hat. In Courchevel in den französischen Alpen  besitzt er ein feudales Chalet und bringt sein Gefolge in nahen Hotels  unter. Im letzten Winter verbrachte er Wochen bei seiner Mutter, die  sich im Pariser Vorort Neuilly niederließ, als dort noch Frankreichs  Präsident Nicolas Sarkozy Bürgermeister war. Seine Begleiter wurden zur  Diskretion angehalten. Einkaufen und Restaurants ja, Nachtclubs nein,  lautete die Anweisung. Nie hat Mohammed VI. einer  marokkanischen Zeitung ein Interview gegeben, doch dem Figaro bekannte  er einmal: "Wie alle meiner Generation liebe ich Rock und Rai. Ich gebe  zu, mein Geschmack auf diesem Gebiet ist sehr kommerziell." Zu seinen  Lieblingsfilmen gehören "West Side Story", "Der Pate" und "Apocalypse  Now". Mit seinen Lederblousons, seinen Designer-Anzügen und dunklen  Brillen verkörpert er das Ideal der jungen Marokkaner, die zwischen  Rückbesinnung auf den Islam und Hiphop hin- und hergerissen sind:  Könnten sie es sich leisten, sie wären wie er. Unverkennbar hat  der König Gewicht angesetzt. Im Herbst passten plötzlich Anzüge nicht,  die von seinem Pariser Schneider geliefert wurden. Auch Maßschuhe vom  französischen Hoflieferanten waren zu knapp. Alles wurde umgehend  zurückgeschickt. Sein Vater, so bemerkten Eingeweihte, hätte die  Kleider einem Premier oder General geschenkt. Ein Missgeschick, wie es  Mohammed als Kronprinz passierte, ist heute freilich ausgeschlossen.  Denn als König inspiziert Mohammed gern. Damals hatte er regelmäßig bei  Yves Saint Laurent arbeiten lassen. Der zuständige Palastschranze fand  einen billigeren Schneider sowie falsche YSL-Etiketten und steckte die  Differenz in die Tasche. Zwei Jahre ging das gut, bis der Prinz in  Paris anrief und wegen einer Zeremonie auf Eile drängte: Das Haus YSL  erklärte sich für unzuständig. Längst hat der König keine  Kontrolle mehr über die öffentliche Meinung. Im Mai wurde das Rabater  Büro des Nachrichtensenders Al-Jazeera geschlossen, weil er über  Unruhen in der südlichen Stadt Sidi Ifni berichtet hatte. Doch  nicht nur über Satelliten-TV erfahren die 33 Millionen Untertanen, was  in der Welt geschieht. Wenn Verkehrspolizisten einem Autofahrer  Bakschisch abpressen, nimmt jemand die Szene mit einem Handy auf, und  ein Blogger stellt sie ins Internet. Der Monarch hat erkannt,  dass es Vertrauen schafft, wenn historische Wahrheiten nicht länger  unterdrückt werden: In den Buchläden liegen die Erinnerungen von Malika  Oufkir auf. Sie ist die Tochter des Innenministers und  Geheimdienstchefs von Hassan II., der 1972 einen Putsch mit dem Leben  bezahlte. Der König rächte sich mit Sippenhaft. Malika, die im Palast  als Prinzessin aufgezogen worden war, wurde mit Mutter und Geschwistern  für 19 Jahre in einen Wüstenkerker geworfen und lange in Einzelhaft  gehalten. Erst 1996 durften sie ausreisen. In einem Torturm der  Kasba von Rabat findet derzeit eine Ausstellung über Mehdi Ben Barka  statt. Als einflussreicher Führer der marokkanischen Opposition wurde  er 1965 von Hassans Geheimdienst aus dem Pariser Exil entführt und  umgebracht. Seine Leiche wurde nie gefunden. Noch in den ersten  Regierungsjahren von Mohammed VI. wäre solche Offenheit unvorstellbar  gewesen. Manchen Königen muss man eben etwas Zeit geben. "Der  Thron der Alauiten steht auf dem Rücken der Pferde": An diese Weisheit  seines Vaters hält sich Mohammed VI. noch bisweilen, auch wenn er  selbst schnelle Autos bevorzugt. Foto: AFP  |